Gott ist Licht – Die Kathedrale von Chartres
Im Sommer 1996 kamen wir zum ersten Mal nach langen Jahren wieder nach Chartres. Die Kathedrale hatte mich schon bei meinem ersten längeren Frankreichaufenthalt 1971 fasziniert. Jetzt, mit dem Vorhaben im Gepäck, einen einstündige Dokumentarfilm für den Bayerischen Rundfunk zu drehen, war die Begegnung um ein Vielfaches intensiver.
B&B bei einer Bauernfamilie
Wir bezogen Quartier in der Nähe von Chartres bei einem sehr schönen B&B bei einer Bauernfamilie in der Nähe des Städtchens. das klingt romantisch, das alte Bauernhaus war es auch. Und die junge Familie mit zwei kleinen Kindern hat uns sehr herzlich aufgenommen. Landwirtschaft bei Chartres heisst großflächiger Anbau von Getreide. Große Maschinen gehörten zum Hof. Die Ernte stand bevor. Also von stiller ländlicher Abgeschiedenheit kein Spur.
Eine besondere Geschichte hat der Schluss des Filmausschnitts. Er zeigt die Kathedrale von einem Ort östlich, an dem abends die Sonne direkt über der Kirche untergeht. Diesen Punkt an einer kleinen Straße 10, 12 Kilometer im Osten der Kathedrale zu finden, war nicht leicht. zumal die Recherchen im Juni stattfanden, die Aufnahmen aber für September angesetzt waren. Aber wir haben den Ort gefunden, er liegt an einem der Wege, die jedes Jahr zu Palmsonntag Studenten aus Paris nehmen, auf ihrem Pilgerweg nach Chartres.
Die Wallfahrt an Palmsonntag
Als wir die Wallfahrt am Palmsonntag 1997 filmen, haben über 5.000 Studenten an der Wallfahrt teilgenommen. Wenn die Pilger in Chartres eintreffen sammeln sie sich mit ihren Palmzweigen vor dem verschlossenen Portal. Mit harten Schlägen öffnete der Kardinal Lustiger das Königsportal der Kirche und die Pilgermenge schob sich in das riesige Kirchenschiff vor – Symbol für den Einzug Jesu in Jerusalem. Ein unglaublich tief bewegendes Erlebnis. Der Kameramann Philipp Müller „schwamm“ mit seiner Steadycam mitten zwischen den in die Kirche strömenden Studenten. Zum Mißfallen des Kardinals drehte er noch vom Altar aus, als die Messe bereits begonnen hatte. Das sind die Momente, wo der Regisseur in Konflikte gerät. Wir durften, ja mußten stören, aber besser aus dem Hintergrund. Die wirklich spektakulären Aufnahmen aber gibt es vorne.
Das Labyrinth
An einem Tag im September 1996 haben wir mit einigen Helfern sämtliche Stühle aus der Kirche geschafft um das großartige Labyrinth zu filmen. Wir hatten einen 10 Meter hohen Kamerakran in die Kathedrale geschafft. Die Nutzung einer Drohne, damals gab es gerade die ersten Modelle, war untersagt worden. Der Grund war, dass ein Team der BBC eine Drohne in eines der unersetzlichen Kirchenfenster gelenkt hatte. Die Kameras wogen damals noch einige Kilo und ein paar Scheiben gingen zu Bruch. Aber glücklicherweise waren es keine der besonders wertvollen „Bleu de Chartres“ Exemplare. Das Labyrinth mit dem schweren Kran zu filmen, war ein echt beschwerlicher Weg. Am Ende gab es für uns die verdiente Erlösung – die Aufnahmen aus 10 Metern Höhe waren hervorragend gelungen. Das geheimnisvolle Labyrinth lädt uns zu einer spirituellen Reise ein. Wer bin ich? Was ist der Sinn des Lebens?
Bleu de Chartres
Wir haben auch die Glasherstellung damals genau studiert und schließlich in St. Etienne im Süden Frankreichs auch gefilmt. Kobalt, Antimon, Kupfer und Eisen in einer Natriumschmelze erzeugen ein intensiv leuchtendes Blauglas. Nur in Chartres kann man noch dieses originale Glas aus dem 12. Jahrhundert sehen. Heute bessern die Restauratoren schadhaftes Glas sehr behutsam mit neuen nach dem Originalrezepturen hergestellten Scheiben aus. Doch die allermeisten Glasflächen in der Kathedrale sind original erhalten. „Gott ist Licht“ – die im Morgenlicht leuchtenden farbigen Fenster der Kathedrale erzeugen eine unvergleichliche Atmosphäre.
Auch Filmen ist Arbeit mit Licht. Am Ende des Tages, wenn das Jesse Fenster in der Kathedrale von Chartres zu glühen anfängt, empfängt unsere Seele den tiefen Kontakt zu dem, das uns im Innersten antreibt und bewegt.
Der Film „Chartres oder der Geist der Gotik“ wurde in verschiedenen Sendern der ARD und in anderen Ländern Europas gezeigt. In Frankreich wurde der Film von Ulrike und Stephan Bleek auch in das Filmprogramm für Schulen aufgenommen.
Schauplätze der Weltkulturen – Chartres und der Geist der Gotik
Ein Dokumentarfilm über die Kathedrale von Chartres (BR 1997)
Buch: Ulrike Ziegler
Regie: Stephan Bleek
Kamera: Hermann Reichmann, Philipp Müller
Schnitt: Katharina Sanders